Artikel woman Teil 1


Artikel Woman Teil 2



Artikel der Zeitschrift WOMAN, Ausgabe 23/2002 von Sabine Franz

Nach den schrecklichen Morden an Jennifer und Jakob: Immer mehr Eltern haben Angst, dass ihren Kindern etwas Ähnliches zustoßen könnte. woman nennt Organisationen und gibt Experten-Tipps, die Kindern helfen sollen, sich gegen Übergriffe zu wappnen.

Wie können wir unsere Kinder besser schützen?

Ein Meer von Blumen und Kerzen markiert die Stelle, an der es passiert ist. Stofftiere und Briefe verwandeln in Neumünster ein kleines Stück Parkplatz in eine Gedenkstätte. Dort fiel die 16-jährige Jennifer auf ihrem Heimweg einem Sexualstraftäter zum Opfer. Auch in Frankfurt-Sachsenhausen legen die Menschen Blumen, Kränze und Teddys vor einem Haus nieder. Hier wohnen die Eltern des 11-jährigen Jakob von Metzler, der wenige Tage nach Jennifer starb. Er wurde von einem 27-jährigen Jurastudenten entführt und ermordet. Die Bilder gleichen sich. Nachbarn und Passanten wollen etwas für die fassungslosen Eltern tun – stummes Beileid erscheint zu wenig. Trauer, Wut und Hass bewegen die Menschen in ganz Deutschland. Und die Frage: Wann hört das endlich auf?

Erst vergangenes Jahr überschlugen sich die Vermissten- und Schreckensmeldungen: Im Februar 2001 wurde die 12-jährige Ulrike aus Eberswalde ermordet, wenig später die 8-jährige Julia im hessischen Biebertal. Von den vermissten Mädchen Peggy aus Oberfranken und Adelina aus Bremen fehlt noch immer jede Spur. Kriminalisten gehen auch bei diesen Fällen von Gewaltverbrechen aus. Häufen sich die Straftaten an Kindern, oder kommt es uns nur so vor? „Tatsächlich sind die Zahlen eher rückläufig“, erklärt Polizeipsychologe Adolf Gallwitz, Professor an der Polizeifachhochschule Villingen-Schwenningen.

248 minderjährige Opfer von Sexualmorden und –mordversuchen in Deutschland gab es von 1971 bis 1980, 157 in den Achtzigern, 66 waren es in den Neunzigerjahren. Für die Eltern der Opfer ein schwacher Trost. „Mit dem Interesse der Medien ist jedoch die gesellschaftliche Sensibilität für das Thema gestiegen“, so Gallwitz. „Früher war man vorwiegend regional orientiert – jetzt erfährt die ganze Republik, wenn in einem Dorf ein Kind vermisst wird.“ Die erschütternden Mendlungen rütteln Eltern im ganzen Land wach: Wie können wir unsere Kinder sinnvoll Schützen? Die Polizei informiert an Schulen regelmäßig über Gewalt-Prävention. Zahlreiche Kinderschutz-Organisationen geben Tipps im Internet und mahnen Eltern, genauer hinzuschauen: zum Beispiel, wenn ein Unbekannter Kinder auf dem Spielplatz oder Schulhof fotografiert. Manche Pornobanden suchen sich auf diesem Wege gezielt ihre Opfer aus.

Weil Ratschläge allein nicht reichen, bieten Polizeidirektionen und privat organisierte Teams außerdem Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungskurse an. Ralf Schmitz, Selbstverteidigungs-Spezialist, Ex-Polizeibeamter und GSG-9-Berater, hat bereits vor zehn Jahren in Euskirchen bei Köln das „Sicher-Stark-Team“ gegründet. Die Kurse basieren auf dem Bielefelder Polizeiprojekt, einer Lehrmethode, die in Zusammenarbeit mit Polizei und Hochschule entwickelt wurde. Das zehnköpfige „mobile Einsatzkommande“, bestehend aus SelbstverteidigungsexpertInnen, Psychologen und Dozenten, hält an Schulen und für Elterninitiativen in  ganz Deutschland so genannte Denfending-Kurse für Kinder  ab. Passende Räumlichkeiten organisieren Schule bzw. Eltern. Schutzausrüstung und Videokameras zur Aufzeichnung stellt das „Sicher-Stark-Team“. Schmitz legt Wert darauf, dass immer ein weiblicher und ein männlicher Trainer vor Ort sind, damit Mädchen und Jungen sich gleichermaßen wohl fühlen. Die Kurspreise variieren je nach Anreise, Aufwand und Einsatz technischer Hilfsmittel. Grob lassen sich die Kosten auf fünf Euro pro Teilnehmer und Stunde beziffern.

Eine Kindertrainings-Einheit beim „Sicher-Stark-Team“ sieht so aus: Zu Beginn sind erst einmal die Eltern dran. Auf einem Elternabend werden sie über typische Täter- und Opferprofile informiert sowie über Möglichkeiten, das eigene Kind durch Erziehung stark und „wehrhaft“ zu machen Dazu gehört auch zu akzeptieren, dass es gut ist, wenn Kinder manchmal Nein sagen und nicht gehorchen. Am nächsten Tag treten die Kinder in Aktion – ohne Eltern. „Stellen Sie sich vor, 30 Elternpaare säßen in der Turnhalle und schauten beim Kurs zu. Das würde die Kinder nur hemmen“, erklärt Ralf Schmitz.

In 21 Stunden Theorie und Praxis lernen die Mädchen und Jungen, die einschmeichlerische Überredungskunst des Täters als Gefahr zu erkennen“, erklärt Co-Trainerin                                   Gudrun Rinker. Außerdem üben sie, den ersten Schock bei einem Angriff zu überwinden, sicher  aufzutreten, den Täter anzuschreien und die Schrecksekunde zur Flucht zu nutzen. „Aber auch die Schulung von körperlichen Abwehrtechniken ist wichtig“, so Rinker, „denn schließlich sollen die Kinder in der Lage sein, sich aus einer Umklammerung lösen zu können“. Das Gelernte bekommen gut gepolsterte Trainer oder Polizeibeamte in Form von Tritten ab, die auch von Kindern schmerzhaft sein können.

Im Anschluss an die „Trockenübungen“  in der Turnhalle wird der Ernstfall auf der Straße oder im Park geübt, wo Faktoren wie Wetter, Kleidung und Schulranzen eine zusätzliche Rolle spielen. Das Ergebnis macht Mut: Alle Kinder können mit Angriffssituationen umgehen. Nach den Kursen erhält Ralf Schmitz oft Briefe von Eltern, die festgestellt haben, dass ihr Kind auch im schulischen und sozialen Bereich viel selbstbewusster geworden ist.

Dass vehemente Gegenwehr einen Verbrecher in die Flucht schlagen kann, hat am 3.Oktober eine Schülerin im schwäbischen Ort Kuchen bewiesen. Ein auf Bewährung entlassener dreifacher Mörder hatte das Mädchen mit einem Messer bedroht und versucht, sie in seinen Wagen zu zerren. Die 17-Jährige schrie laut um Hilfe, strampelte sich frei und rettete sich in ein Haus. Sie erlitt lediglich Schnittwunden und konnte nach ambulanter Behandlung wieder nach Hause zu ihren Eltern zurückkehren.

Ralf Schmitz, Leiter und Trainer des „Sicher-Stark-Teams gibt Tipps, wie sich Kinder schützen können:
„Trau` deinen Waffen: Stimme, Hände und Füße!“

-         Selbstbewusstes Auftreten

Kinder, die erhobenen Hauptes und mit straffen Schultern auf der Straße gehen, wirken stärker. auf diese Weise werden Täter eingeschüchtert, die sich eher schwache, schüchterne Opfer aussuchen.

-         Schlüssel statt Spray

Wer sich auf Verteidigungsspray verlässt, steht im Notfall womöglich auf dem Schlauch: Es versagt, weil sich Dreck festgesetzt hat, oder es ist ganz unten im Schulranzen vergraben. Besser: Das Kind schleudert dem Angreifer einen Schlüsselbund in Gesicht.

- Weg von der Autotür

Ein Auto hält und der Fahrer fragt nach dem Weg – eine möglicherweise gefährliche Situation. Kinder sollten auf keinen Fall direkt an die Seitentür treten. Wer in der Nähe des Seitenspiegels bleibt, kann nicht ins Innere gezogen werden und schneller weglaufen.

-         „Feuer“ statt „Hilfe“ rufen

Wer belästigt wird, sollte nicht um Hilfe rufen. Viele Passanten ignorieren solche Rufe, weil sie nicht in einen Streit hineingezogen werden wollen. Besser: „Feuer“ schreien – das erhöht die Aufmerksamkeit und der Täter flüchtet.

-         Fliehen , aber mit Ziel

Wer bemerkt, dass er auf dem Heimweg verfolgt wird, soltle rennen – aber nicht planlos. Am besten ist es, sich in ein Restaurant oder ein Geschäft zu flüchten.

-         Notruf wählen

Besitzt das Kind ein Handy, sollte es auf einsamen Wegen angeschaltet sein. Lässt sich ein Verfolger nicht abschütteln und ist keine „Rettungsinsel“ in Sicht, sollte es den Polizei-Notruf 110 wählen.